Tag der Deutschen Einheit, Hannover Hauptbahnhof, Gleis 9. Gerade auf Gleis 10 eingefahren, wollte ich eigentlich eine gute halbe Stunde später weiter mit dem ICE nach Berlin. Doch dann sehe ich die Anzeige am benachbarten Gleis: Ein IC fährt ebenfalls dorthin – schon in 10 Minuten. Den Zug hatte ich in der Bahn-App nicht entdeckt, tippe also nochmals in ihr herum: Fehlanzeige, der Zug existiert hier nicht. Die nette Zugbegleiterin, die mit genau drei weiteren Fahrgästen am Bahnsteig auf besagten IC wartet, wundert sich ebenfalls: „Komisch, das hat mir schon ein anderer Fahrgast gesagt, ich schaue gleich mal nach.“ Sie zückt ein gedrucktes Heft mit Verbindungen ab Hannover: „Hier steht alles richtig drin, fährt an Sonn- und Feiertagen, aber im Online-System ist er offensichtlich nicht – wahrscheinlich ein Fehler wegen des Feiertags.“

Tatsächlich kommt der Zug, fährt pünktlich los und kommt pünktlich in Berlin an – und ist praktisch leer. Wie der aufgeräumte Zugbegleiter berichtet, haben zwischen Köln und Berlin 25-30 Leute diesen Zug benutzt – und das, obwohl laut App andere Züge auf dieser Strecke an diesem Tag eine extrem hohe Auslastung verzeichnen, weshalb die App Kunden eine Reservierung empfiehlt.

Klar: Der Bahn ist hier ein Fehler passiert – aber das ist nicht das Interessante. Spannend sind seine Folgen. Denn obwohl es eine extrem hohe Nachfrage nach dem Produkt „Fahrt von Hannover nach Berlin“ gab, wurden über besagten IC praktisch keine Tickets verkauft. Dadurch, dass der Zug weder in der App noch in den Online-Angeboten der Bahn zu finden war, wurde er – aus ökonomischer Sicht – zum Geisterzug. Und dass es einen Printkatalog mit zutreffenden Informationen gab, war schlicht irrelevant: In einem Kontext wie der Planung einer Bahnfahrt, in dem es auf aktuelle Informationen ankommt, blättert kein Mensch mehr solche Kataloge.

Natürlich: Eine Bahnreise zu planen und ein Sortiment zusammenzustellen, sind zwei sehr verschiedene Dinge. Aber ist es nicht trotzdem eine verlockende Vorstellung, mit Hilfe eines Online-Systems tagesaktuelle Einkaufsentscheidungen vornehmen zu können? Und wenn diese Verlockung zur täglichen Praxis wird: Wie stelle ich als Verlag sicher, dass meine Produkte für meine Handelspartner sichtbar werden und mit aktuellen Informationen ausgestattet sind? Ein Vorschau- und Einkaufssystem kann nur eine Teilantwort auf Fragen wie diese sein – aber sicher keine unwichtige, denn hier wie z. B. auch in Online-Shops besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Sichtbarkeit und Verkaufserfolg; für den übrigens die Existenz eines Printkatalogs nur noch mittelbar von Bedeutung ist.

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Foto: Hörbuch „Der lange Abschied“ von Raymond Chandler (Diogenes)

Auch wenn die Bahn das naturgemäß anders sehen muss, war die Reise in einem quasi leeren Zug für mich ein Genuss. Nicht zuletzt, da mich ein tolles Hörbuch begleitete: Der lange Abschied von Raymond Chandler. Zufall?

Text & Fotos: Roland Große Holtforth